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De controverse in Das neue Tagebuch

Emigranten-Literatur
Menno ter Braak

Der Verfasser - der den Aufsatz übrigens selbst in deutscher Sprache schrieb - ist einer der geschätztesten holländischen Essayisten und Roman-Autoren, literarischer Kritiker von ‘Het Vaderland’ und Redakteur der Zeitschrift ‘Forum’.

Als sich 1933 in Deutschland die sogenannte ‘Nationale Revolution’ vollzog, sahen nicht nur die deutschen Schriftsteller sich genötigt, Partei zu ergreifen; die deutsche Literatur war ja eine europäische, nicht nur eine deutsche Angelegenheit. Im heutigen Europa kann man überhaupt nicht mehr von nationalen Literaturen sprechen, es sei denn, man beschäftigte sich speziell mit Folklore. Es gibt höchstens noch nationale Akzente, die in gewissen Fällen von grosser Bedeutung sein können, niemals aber über den Wert des eigentlich Literarischen entscheiden. Wie töricht es auch sein mag, das nationale Moment vollkommen auszuschalten und die europäische Literatur als eine Art ‘Esperantokollektiv’ zu betrachten: Tausendmal törichter ist es jedenfalls, das Nationale als Selbstzweck figurieren zu lassen. Ich behaupte das in aller Ruhe, und keineswegs als ‘Utopist’. Das ‘gute Europäertum’ hat mit Utopismus nichts zu tun; wir fühlen europäisch, weil wir Europäer geworden sind.

Wir hatten also gar keine Wahl. Als die deutsche offizielle Literatur sich infolge der ‘nationalen Revolution’ planmässig auf die nationalen Werte zurückzog und die europäischen Strömungen ebenso planmässig boykottiert wurden, war die Sache der Emigrationsliteratur auch unsere Sache geworden. Nicht kritiklos den Emigranten gegenüber, sondern überzeugt von der Bedeutung unserer gemeinsamen Mission habe ich damals die ersten Erschei-

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nungen der Emigrantenverlage begrüsst. Wenn ich auch, um ein Beispiel zu nennen, von der allzu einfachen Vernunftsideologie eines Heinrich Mann in seinem ‘Hass’ nicht schlechthin begeistert war, konnte ich doch nicht umhin, die Stellungnahme dieses Autors zu bewundern und zu verteidigen. Man soll sich darüber nicht täuschen lassen: die Verwandtschaft zwischen den Schriftstellern der deutschen Emigration und ihren europäischen Kollegen entstand ziemlich unabhängig von reinen literarischen Masstäben. Wir haben darum jetzt nicht erst abgewartet, bis die Emigranten zu produzieren anfingen. Wir durften schon vorher ganz offen sagen und schreiben, die Emigration sei uns wichtiger als das literarische Geschäft des Herrn Dr. Goebbels.

Aus alledem geht aber auch hervor, dass wir uns die Freiheit vorbehalten haben, unser Verhältnis zu jedem einzelnen Emigrantenbuch in seiner Eigenschaft als literarisches Phänomen ohne irgendwelche Voreingenommenheit zu begründen. Es wäre sogar möglich gewesen (man darf dies scheinbare Paradoxon nicht übersehen), dass wir literarisch die gesamte Emigrationsliteratur hätten ablehnen müssen. Das Literarische ist ja nur eine Erscheinungsform, und diese Erscheinung des Wesens kann manchmal (könnte sogar immer) eine Verzerrung des Wesens sein. Wer in der Literatur das Wesentliche sucht, kann sich sehr leicht irren; denn die literarische Betätigung setzt im allgemeinen eine grosse Fähigkeit zum Verstellen, zum Arrangieren, zum Schauspielern, kurz: zum Unwesentlichen voraus. Nur der ganz naive Mensch kann noch glauben, dass Literatur und Ehrlichkeit Synonyme seien; in den meisten Fällen hat sich zwischen den Menschen und das Werk schon die Theaterkunst geschoben. Man soll die Schauspielerei des Literaten nicht absichtlicher Verlogenheit gleichsetzen. Im Gegenteil: durch die andauernde literarische Tätigkeit entsteht wieder eine neue Art Ehrlichkeit. Aber die ist sogar noch gefährlicher als die grundsätzliche Verlogenheit des zielbewussten Komödianten. Gerade weil im Literaten gar

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kein Zweifel mehr aufkommt, ob die Literatur denn wirklich den Wert einer unmittelbaren Enthüllung einer menschlichen Seele habe, verliert er das Misstrauen gegen die Literatur; die ‘adoration mutuelle’ der Künstler ist manchmal nicht weniger naiv als die ursprüngliche Naivität des ungebildeten Menschen. Das Wort Nietzsches: ‘Schreibt man nicht gerade Bücher um zu verbergen, was man bei sich birgt?’, hat vielen Künstlern gar nichts zu sagen, - denn das Wort wendet sich gegen den literarischen Betrieb, womit sich der zufriedene Literat schon längst abgefunden hat. Seine literarischen Urteile beziehen sich überhaupt nicht mehr auf die literarischen Werte als Lebens-Werte; es handelt sich in der zunftmässigen Kritik nur noch um Fach-Werte.

Die deutsche Literatur vor der ‘nationalen Revolution’ war in manchen Hinsichten eine Literatenliteratur. Man soll das offen sagen. Nur so kann man zu einem besseren Verständnis der heutigen Emigrationsliteratur gelangen. Dass die Emigranten besser schreiben als die Dunkelmänner der Reichskulturkammer (die neuen Literaten!) beweist also nicht die Superiorität der Emigranten; es beweist nur ihre grössere Anpassungsfähigkeit. Dass Wirrköpfe heute im Dritten Reich sich breit machen und wissenschaftliche Verworrenheit mit Provinzlermärchen verbinden, beweist noch nicht, dass die Emigration an den Brüsten der Wahrheit saugt. Die wirkliche Emigrationsliteratur ist, trotz der beträchtlichen literarischen Ernte dieser Emigrationsjahre, noch ungeheuer klein. Und zwar deshalb, weil die Majorität der bei den holländischen, französischen, tschechischen und schweizerischen Verlegern erschienenen Bücher sich gar nicht wesentlich von der vorhitlerischen Produktion unterscheidet. Manchmal hat man den Eindruck, dass der ‘Betrieb’ einfach fortgesetzt wird; was früher Kiepenheuer und Fischer war, sind heute Querido und de Lange. In der Wahl der Motive macht sich freilich die neue Situation bemerkbar; aber Motive entscheiden nicht über den Wert einer Literatur. Ich habe in den Emigrantenbüchern tatsächlich auch ehr-

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liche Empörung gefunden (Ernst Toller: ‘Eine Jugend in Deutschland’), und ehrliche Empörung ist mir schon lieber als glatte Literatur. Aber auch Empörung kann ich nur als Vorstufe betrachten, weil selbst der Empörte, und gerade er, noch der schärfsten Selbstkritik bedarf, um ein Buch de premier ordre schreiben zu können.

Diese Kritik an sich selbst fehlt leider auch dort, wo sie am wenigsten fehlen dürfte: in den Referaten der Emigrations-Zeitschriften. Ist es ‘Taktik’, die hier immer wieder das Wort ergreift? Dann scheint mir diese Taktik ungeschickt. Es gibt doch wohl nur die eine Taktik: gegenüber der miserablen Literatur des Dritten Reiches vor den Augen der Welt durch überzeugend bessere Leistung das Bild eines anderen, eines geistigen Deutschland entstehen zu lassen! Es war ein Emigrant, der mir, im Hinblick auf das Versagen der literarischen Kritik in den Emigrantenzeitschriften, schrieb: ‘Mit der Nachahmung der Methoden des Propagandaministeriums kann man nur ähnliche Effekte der Ablehnung und des Misstrauens erzeugen wie Herr Goebbels selbst.’ Es scheint mir aber sehr zweifelhaft, ob hier wirklich bewusste Taktik herrscht; lieber greife ich zurück auf meine Bemerkungen über die relative Naivität der Künstler im allgemeinen. Die Künstler stehen als Künstler schon ihren eigenen Theatereffekten ziemlich kritiklos gegenüber, weil sie die Gebärde, die Maske, die Attitüde als das Wesentliche nehmen; man darf sich also nicht zu sehr darüber wundern, dass sich bei ihnen, die durch eine widerliche Hetze aus ihrem Lande hinausgejagt wurden, die Kritiklosigkeit zu einem ‘Komplex’ entwickelt. Die Notwendigkeit, sich gegen schmutzige Verleumdung zu verteidigen, gegen Dummheit, die sich als Mystizismus aufputzen möchte, schmiedet Schutzwaffen; und die Schutzwaffe macht kritiklos auch den Kameraden gegenüber, die sich mit ähnlichen Waffen schützen.

Auf die Dauer aber wäre dieses Verhalten der Emigranten-Kritik den eigenen Fehlern gegenüber fatal für ihr Prestige in Europa. Die Ueberschätzer des rein-

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literarischen auf Kosten der Lebenswerte mögen ja zeitweilig die Suggestion von der Vorzüglichkeit der gesamten Emigrantenliteratur aufrechthalten können. Schliesslich einmal wird sich aber herausstellen müssen, dass dies Niveau nur ein artifizielles ist und nur durch Kunstgriffe glaubhaft gemacht wurde. Ohne Schwierigkeit könnte ich an dieser Stelle eine Anzahl konkreter Beispiele nennen. Vielleicht aber empfiehlt es sich, in diesen allgemeinen Bemerkungen allgemein zu bleiben und den Emigrationsautoren selbst zu überlassen, aus der Theorie ihre praktischen Konsequenzen zu ziehen. Gut geschriebene, mit gutem Geschmack komponierte Bücher, die auch von einem anderen talentierten Schriftsteller geschrieben sein könnten und dem Leser nicht mehr geben als andre ‘gute’ Bücher, sind relativ (und ich sage das, ohne die Verdienste der ‘Technik’ schmälern zu wollen) ‘bedeutungslos’. Auf etwas Anderes kommt es an, und von diesem Anderen wird in den überschwenglichen Kritiken der Emigrantenpresse leider nur ausnahmsweise gesprochen.

Der Herausgeber des n.t.b. räumt meinem Aufsatz die Spalten dieser Zeitschrift ein und beweist damit, dass er sich der Verantwortlichkeit einer wirklichen Diskussionsfreiheit bewusst ist. Ich hätte diese Gedanken übrigens nicht formuliert, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass man meine kritischen Aeusserungen richtig auffassen wird. Die Emigrationsliteratur soll mehr sein als eine Fortsetzung. Sie soll den Mut haben, ihre europäische Aufgabe zu verstehen und ihre Stellungnahme zur Literatur nicht nur beeinflussen zu lassen von der Notwendigkeit, gegen den falschen Mystizismus der Blubo-Götzendiener zu kämpfen. Ihre Kritik soll nicht die Geschicklichkeit des Literaten, sondern die Genialität der grossen Persönlichkeit als Masstab wählen. Sonst könnte jemand einmal über die Don Quichotes der Literatur einen humoristischen Roman schreiben, der Franks ‘Cervantes’, in dem Don Quichote nur eine Nebenfigur ist, in den Schatten stellen würde...

DNT, 29 dec. 1934

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Grössere Strenge gegen die Dichter?
Erich Andermann

Menno ter Braak hat vielleicht eine allzu hohe Meinung von den Möglichkeiten der sogenannten ‘Emigranten-Literatur’, der er im letzten ‘N.T.B.’ so bittere Dinge gesagt hat. Bei bescheideneren Ansprüchen könnte man es eher als Lob denn als Vorwurf empfinden, dass - wie der holländische Schriftsteller sagt - sich ‘die Majorität der Emigranten-Bücher von der vorhitlerischen Produktion gar nicht wesentlich unterscheidet’. Sein Niveau zu halten, unmittelbar nach dem Chock des deutschen Erdrutschs, in den unermesslichen Schwierigkeiten des Exils - vielleicht ist schon das eine Leistung, die der Anerkennung wert ist. Aber Menno ter Braak fordert mehr. Stillschweigend setzt er voraus, dass das schmerzliche Erlebnis der Emigration auf das literarische Schaffen fördernd wirken musste statt lähmend. ‘Gut geschriebene, mit gutem Geschmack komponierte Bücher’ scheinen ihm unzulänglich, wenn sie von jenen Emigranten geliefert werden, die ganz vor kurzem aus allen Zusammenhängen, in denen sie geistig, seelisch, materiell verwurzelt waren, hinausgerissen wurden. ‘Die Emigrantenliteratur’, sagt Menno ter Braak, ‘muss mehr sein als eine Fortsetzung’, und ihre Kritiker, fordert er, müssten ‘die Genialität der grossen Persönlichkeit als Masstab wählen’. Gibt es eine ‘Emigranten-Literatur’, an die so hohe Ansprüche gestellt werden könnten?

Es gibt Bücher deutscher Autoren, die anormalerweise im Ausland erscheinen und denen der Zugang zum deutschen Büchermarkt meistens versperrt ist. Das ist ein gemeinsames Schicksal, aber es begründet keine geistige Kategorie. Es gibt deutsche Autoren der Emigration, die das Schicksal des Exils freiwillig auf sich genommen haben, weil sie in der vom Nationalsozialismus verpesteten Luft nicht länger atmen wollten. Es gibt Andere, die noch vor gar nicht langer Zeit der Reichskulturkammer in Demut zu wissen gaben, sie seien nur irrtümlich auf die Mitar-

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beiterliste einer literarischen Emigrantenzeitschrift gekommen und würden nichts Böses tun. Schliesslich gibt es auch noch gute deutsche Schriftsteller, deren Bücher noch immer in Deutschland erscheinen können, und die doch - man muss nur den Namen Thomas Mann erwähnen - so ‘exilwürdig’ sind wie nur irgendein im Reiche zum Scheiterhaufen verurteilter Emigrationsliterat. Im Allgemeinen hat Goebbels entschieden, was ‘Emigranten-Literatur’ zu werden habe und was seine literarische Existenz jenseits der Grenze fortsetzen dürfe. Aber dieser verunglückte Asphaltliterat, der sich am Rücken Hitlers zum Oberkommandierenden des deutschen Geisteslebens hinaufgewunden hat, versteht nicht das Mindeste von Literatur.

Es folgt daraus, dass die ‘Emigranten-Literatur’ keineswegs eine geistige Einheit ist, sondern nur eine mehr oder minder zufällige Schicksalsgemeinschaft. Unter ihren Autoren gibt es gute und weniger gute Schriftsteller, wahre Dichter und Verfasser von Unterhaltungsromanen, Autoren, die im Abstieg sind, und Andere, die sich höher entwickeln, Schriftsteller, deren Schaffenskraft zeitweilig erschöpft scheint, und Andere, deren Namen vielleicht noch in keinem Verlagskatalog sind, die morgen oder übermorgen das ‘grosse’ Werk der literarischen Emigration schaffen könnten - wenn ihre Entwicklung ermutigt wird. Und ihnen Allen, ohne Unterschied scheinbar, ruft Menno ter Braak zu, sie sollten ‘den Mut haben, ihre europäische Aufgabe zu verstehen’ und sie seien verpflichtet, nicht nur ‘gute’ Bücher zu schreiben, sondern ‘bedeutende’.

Mit Verlaub: die ‘europäische Aufgabe’ der Emigrantenliteratur, - was ist das? Welche Aufgabe könnten die exilierten deutschen Schriftsteller erfüllen als die: ihr Bestes herzugeben? Es mag richtig sein, dass auf ihnen eine besondere Verantwortung lastet. Sie müssten das Bewusstsein haben, dass die Pflege der deutschen Sprache, die Traditionen des deutschen Geistes in ihre Hut gelegt sind. Aber welche Fähigkeiten, die ihnen früher fehlten, könnten die exilierten deutschen Literaten entwickeln? Menno ter Braak

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macht ihnen zum Vorwurf, dass ‘nur der ‘Betrieb’ von früher einfach fortgesetzt wird’. Im Grunde kann man von ihnen gerechterweise nicht viel Anderes fordern.

Will man den Wert jener ‘Emigranten-Literatur’ bestimmen, die bis heute vorliegt, so ist es - man muss Menno ter Braak zustimmen-vielleicht allzu billig, Vergleiche mit der Produktion im Reiche zu ziehen. Man dürfte eher mit dem gleichzeitigen Schaffen anderssprachiger Literatur vergleichen. Der holländische Schriftsteller hat darauf verzichtet - vielleicht aus Nachsicht, vielleicht auch, weil er empfindet, dass die ‘Emigranten-Literatur’, anderthalb Jahre alt, wie sie heute ist, noch allzu sehr in ihren Anfängen steckt. Aber ist die Frucht dieser Anfänge gar so hoffnungslos? Es sind immerhin in dieser embryonalen Periode einige bemerkenswerte Bücher erschienen, die Qualität haben, die man dem lesehungrigen Deutschen im Ausland - und dem Deutschen aus dem Reich, der zu Besuch kommt - mit gutem Gewissen als eine Lektüre empfehlen kann, die ihn bereichern wird - das ist eine Leistung, in anderthalb Jahren vollbracht, die Menno ter Braak vielleicht unterschätzt.

Aber es ist noch bedeutsamer, dass die ‘Emigrantenliteratur’, eben indem sie ‘den alten Betrieb fortgesetzt’ hat, einen Rahmen schuf, in dem Entwicklungsmöglichkeiten liegen. Und dadurch rechtfertigt sich auch in den Zeitschriften der Emigration eine gewisse Behutsamkeit der Kritik, die Menno ter Braak als allzu ‘kameradschaftlich’ empfindet. Es gibt da zweifellos Unzulänglichkeiten, es wird hier und da den begreiflichen Tendenzen zur Camaraderie allzu bereitwillig nachgegeben. Wenn ein neutraler Beobachter wie Menno ter Braak den Eindruck gewinnen konnte, es werde ‘die Suggestion von der Vorzüglichkeit der gesamten Emigrantenliteratur’ zu erzeugen versucht, so ist dies in der Tat ein ernstes Warnungssignal. Aber wenn man mit Menno ter Braak ‘gute’ Bücher ablehnen sollte, weil ‘nurgute’ Bücher ‘bedeutungslos’ seien - wo käme man hin? Und was würde überhaupt aus Literaturen, in denen nur das wahrhaft ‘Bedeutende’ Raum und Anspruch auf die Sympathie des Kritikers hätte? Das ‘Bedeutende’ ist durch keine kritische Beschwörung hervor-

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zuzaubern, und wo kein Genie ist, wird es nichts nützen, mit Menno ter Braak ‘die Genialität der grossen Persönlichkeit’ als Masstab zu nehmen. Aber was für die ‘Emigrantenliteratur’, wie für alle Literaturen, notwendig ist, ist ein gewisser ‘literarischer’ Betrieb, ist die Möglichkeit, dass auch blosse ‘Talente’ arbeiten, verlegt werden, ein Publikum finden und an Büchern interessieren. Denn nur dann kann - wenn Gottes Einem gibt - das Genie und das Bedeutende in Erscheinung treten.

Die literarische Kritik in der Emigration, auch wenn sie anspruchsvoller werden muss als bisher, kann nicht, ohne schweren Schaden zu stiften, mit den Dreschflegeln der Unerbittlich keit operieren. Der exilierte deutsche Literat hat mit dem grössten Teil seines früheren Publikums auch den grössten Teil seiner früheren Kritiker eingebüsst. Er fand früher seine Arbeit in einigen hunderten deutscher Blätter gewürdigt, - heute wird sein neues Buch günstigen falls in noch nicht einem halben Dutzend Emigrantenzeitschriften den etwaigen Interessenten angekündigt. Das Interesse, das die deutschen Autoren vielfach in Holland finden, strömt ihnen leider nicht von überall zu; und mit peinlicher Dürftigkeit gerade aus der deutschsprachigen Presse der Schweiz, der Tschechoslowakei, Oesterreichs. Wennfrüher die Quantität und die Vielfältigkeit der Kritiker den Wirkungen eines Missgriffs im Tadel vorbeugen konnte - und Missgriffe können auch dem selbstbewusstesten Kritiker so gut unterlaufen wie dem Autor - so ist heute der kritische Tadel gleichsam eine inappellable Verurteilung geworden, mit all den Gefahren einer Justiz ohne Berufungsinstanz. Auch ohne den Wunsch, der Welt ein trügerisches Bilt literarischen Hochstands vorzugaukeln, ist darum die literarische Emigranten kritik zu einer gewissen Enthaltsamkeit im Hinrichten genötigt. Sie würde, wenn sie den Ansprüchen Menno ter Braaks gerecht werden, wenn sie Verleger und Leser von Büchern abschrecken wollte, die ‘nur gut’ sind, lieblos zerstören, was es in der Emigrantenliteratur an wertvollen Ansätzen, Hoffnungen, Zukunftsmöglichkeiten gibt. Und mindestens um die Zukunftsmöglichkeitendas wird Menno ter Braak zugeben müssen - wäre es schade.

 

DNT, 5 jan. 1935

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Zur Debatte über die Emigranten-Literatur
Ludwig Marcuse

Der holländische Schriftsteller Menno ter Braak hat im neuen tagebuch (No. 52) gegen die deutschen Schriftsteller, die seit zwei Jahren ausserhalb Deutschlands schreiben und veröffentlichen, eine loyale, aber heftige und meiner Ansicht nach doch wohl unberechtigte Attacke gerichtet. Unter der Ueberschrift ‘Emigranten-Literatur’ hat er folgende Thesen aufgestellt:

1.Die Emigrantenbücher unterscheiden sich ‘nicht wesentlich’ von der vorhitlerischen Produktion ihrer Autoren.
2.In den Referaten der Emigrations-Zeitschriften fehlt es an Kritik gegenüber dieser Literatur.

Stimmen diese Thesen? Und soweit sie stimmen; ist der Vorwurf, der in ihnen steckt, berechtigt?

 

Der erste Einwand entsteht schon angesichts der Ueberschrift: ‘Emigranten-Literatur’.

Existiert überhaupt eine ‘Emigranten-Literatur’? Nein, sie existiert nicht! Und es gibt für dieses Nein einen sehr schlichten Beweis: es lässt sich kein Begriff bilden, der das besondere Merkmal dieser Spezies ‘Emigranten-Literatur’ charakterisieren könnte. Das Gebilde, das man ‘Emigranten-Literatur’ nennt, ist, bei Licht besehen, nichts weiter als die Summe aller Bücher deutschschreibender Autoren, die seit Hitlers Krönung nicht mehr in Deutschland erscheinen können, oder nicht mehr in Deutschland erscheinen wollen, oder weder können noch wollen. Dieser gesellschaftlichen Situation, die einer Reihe deutscher Schriftsteller gemeinsam ist, entspricht aber nicht die geringste literarische Gemeinsamkeit. Auch ausserliterarisch besteht eine solche Gemeinsamkeit nicht, nicht einmal in einem politisch gleichgearteten Wollen.

Das Wort ‘Emigrations-Literatur’ ist also ein Oberbegriff,

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dem die tiefere, sachliche Berechtigung fehlt.

 

Hingegen ist treffend die andere Feststellung, dass die neue deutsche Literatur ausserhalb Deutschlands sich ‘nicht wesentlich’ von der vorhitlerischen Produktion ihrer Autoren unterscheidet.

Aber ist diese berechtigte Feststellung auch ein berechtigter Tadel? ‘Die Emigrations-Literatur soll mehr sein als eine Fortsetzung’ - fordert der holländische Schriftsteller. Aber weshalb soll sie mehr sein? Nur weil der Hindenburg den Hitler an die Macht gelassen hat, soll Heinrich Mann das Wunder vollbringen, ab Januar 1933 mehr zu geben als die Fortsetzung seines bisherigen Werkes? Liegt nicht gerade darin seine Grösse und der Beweis für seine geistige Solidität, dass sein ‘Hass’ gegen Hitler die organische ‘Fortsetzung’ seines Hasses gegen Wilhelm II, ist?

 

Es ist das gemeinsame Merkmal aller echten Gegner des Nationalsozialismus, dass sie in ihm kein geistiges Ereignis erblicken, keine ebenbürtige Antithese. So sind sie im tiefsten unbewegt von dieser Bewegung. Weshalb sollte also die Inthronisierung Hitlers eine Wendung in der Produktion von Menschen hervorrufen, die in diesem Vorgang nicht eine neue Offenbarung sehen, sondern nur die Verwirklichung ihrer alten Theorie von der Entwicklung - oder ein Factum brutum? Die Marx-Schüler ordnen die neuen deutschen Ereignisse ohne Mühe in ihr hundert Jahre altes System ein; die bürgerliche Linke oder Mitte erklärt diese Ereignisse ebenso leicht aus der Schwäche einer Republik plus einer Serie unglücklicher Zufälle. Mag nun die eine oder die andere Deutung richtig sein, oder mögen sie auch beide falsch sein, - auf keinen Fall hat sich das Weltbild der deutschen Schriftsteller, die Deutschland verliessen, beim Ueberschreiten der deutschen Grenzen verändert - während sich zum Beispiel das Weltbild der bekehrten Schriftsteller innerhalb Deutschlands sehr verändert haben muss; von ihnen

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allein ist zu verlangen, dass ihre nachhitlerische Produktion sich wesentlich von ihrem vorhitlerischen Werk unterscheidet...

In Parenthese: hätte sich das Weltbild der Emigranten grundlegend gewandelt, so könnte es heute, nach noch nicht zwei Jahren, überhaupt noch keine ‘Emigranten-Literatur’ geben; zumal nicht eine Literatur, von der gefordert wird, dass sie sich schon von der Empörung distanziert habe.

 

Am stärksten überzeugt im ersten Augenblick der Vorwurf, dass die Emigranten-Kritik fast ebenso grammophonhaft jasagerisch sei wie die ‘Kritik’ der Goebbels'schen Jasager. Man könnte Herrn Menno ter Braak nun leicht eine Reihe von sehr streitbaren Referaten, die in der Emigranten-Presse erschienen sind, namhaft machen. Aber man soll ihm lieber ehrlich zugeben: es wird in den Blättern der Emigranten zu den Büchern der Emigranten reichlich Ja gesagt. Doch zu dieser Konzession ist sofort hinzuzufügen: erstens ist die unkritische Buchkritik kein spezifisches Merkmal des Emigranten-Schrifttums; zweitens musste notwendig und unabänderlich in der Emigrations-Kritik der Jasager in den Vordergrund treten; und drittens ist diese Milde kein so grosses Unglück, wie es im ersten Augenblick scheinen mag. Erstens: Kennen die andern europäischen Literaturen keine literarischen Kameraderien? Man sollte nicht gerade der deutschen Emigration ankreiden, was keineswegs ihr Sonderfall ist, was keineswegs nur sie auszeichnet.

Zweitens: Der spezialisierte Literatur-Kritiker, schon im alten Deutschland ein aussterbender Typ, existiert in der deutschen Journalistik ausserhalb Deutschlands überhaupt nicht mehr, aber er wird auch anderwärts immer seltener. Es schreiben fast nur noch Buch-Autoren über einander - was naturgemäss der Literaturkritik nie und nirgends sehr bekömmlich ist. Doch ist es nötig, diesen universalen Misstand gerade dort zu belichten, wo er noch am leichtesten zu verteidigen ist, - aus hundert Gründen,

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vor allem schon aus dem einen: dass ja nur eine beschränkte Zahl Schreibender, und gut Schreibender, der Emigration angehört? Aber sogar wenn der Kreis verfügbarer, hochwertiger Kritiker grösser wäre: welcher Kritisierende hätte in dieser elendesten aller Emigrationen (elender als alle vorangegangenen wegen der Wirtschaftskrise und wegen der allgemeinen politischen Welttendenz) - wer hätte da, frage ich, den Mut, den literarischen Henker zu machen? Im alten Deutschland nannten kleine Schreiber in grossen Zeitungen fast jede Neuerscheinung ‘goethisch’ und ‘dantesk’. Damals übten in der Regel wenigstens Wochenschriften wie das tagebuch rücksichtslos, auf Grund höchster Masstäbe, Kritik. Heute sind diese angesehenen Aussenseiter von einst zu den überhaupt einzigen Organen geworden, die auf die ‘Emigranten-Literatur’ noch ausführlich hinweisen. Eine Vernichtung hier - und Buch wie Autor sind vielleicht überhaupt vernichtet! Welcher Kritiker, welcher Herausgeber eines Blattes hätte unter diesen Umständen zu radikalen Exekutionen den Henkermut? Er müsste sich, - da er weiss, dass Gegenmeinungen sozusagen überhaupt night möglich sind, - schon fast übermenschliche Erkenntnis-Sicherheit zusprechen! Die ‘Emigranten-Literatur’ ist, wirtschaftlich gesehen, ein schwaches Hälmchen, - wohl das weitaus schwächste unter den wichtigeren Literaturen Europas. Welcher gestrenge Richter sollte da so unerbittlich sein, nur ‘die Genialität der grossen Persönlichkeit als Masstab zu wählen’? Nebenbei gesagt aber: über welche andere europäische Literatur ist denn diese äusserste Strenge verhängt, die ausgerechnet gegenüber der jüngsten und gefährdetsten Produktion angewandt werden soll?

Aber besteht nun, drittens, nicht die Gefahr, dass die deutsche Literatur ausserhalb Deutschlands an Kritiklosigkeit zugrunde geht? Ach, es wäre schön, wenn keine andere Gefahr dieser Literatur drohte! Man braucht wirklich nicht zu zittern, dass die deutschen Emigranten gerade an den Folgen von Verzärtelung eingehen

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könnten! Aber Tatsache ist, dass heute nur das Buch und nur der Autor dieser deutschen Emigration sich durchsetzen wird, der auch in andere Sprachen übersetzt wird. Die Kritiker Amerikas, Englands, Frankreichs und der Niederlande aber werden ganz gewiss sachlich sagen, was sie zu sagen haben; sie werden dann wieder gut machen, was der zaghaftere deutsche Kritiker versäumt hat.

 

Aber wer pflegt, könnte noch eine letzte Replik lauten, den deutschen literarischen Nachwuchs? Der Kritiker hat doch die Aufgabe, durch seine Urteile und Wert-Begriffe, sozusagen als Nebenprodukt, auch die literarischen Neulinge zu erziehen.

Es wird kaum lohnen, sich dieserhalb mit Sorgen zu zermürben. Unter den materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen dieser deutschen Emigration dürfte kaum ein junges Schriftstellergeschlecht heranwachsen, - es sei denn ein einzelnes Genie, das seinen Weg so und so finden wird. Europa wird schon zufrieden sein müssen, wenn wenigstens die alten Stämme noch Sprösslinge treiben, die nicht schwächlicher sind als ihre früheren.

 

DNT, 12 jan. 1935

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Emigration - eine Bewährungsfrist
Hans Sahl

In seiner Antwort an Menno ter Braak hat Erich Andermann bereits festgestellt, dass die Emigrationsliteratur keine geistige Einheit darstellt, sondern eine mehr oder weniger zufällige Schicksalsgemeinschaft. Aber welche Folgerungen zieht er daraus? Andermann resigniert. Er ist der Meinung, der emigrierte Schriftsteller habe keine anderen Aufgaben als: erstens, die deutsche Sprache zu pflegen, und, zweitens, sich bewusst zu werden, dass die Traditionen des deutschen Geistes in seine Hut gelegt sind. Mit Verlaub, wir können mit solchen Formulierungen nicht mehr viel anfangen. Auch der Nationalsozialismus behauptet, an die Tradition des deutschen Geistes anzuknüpfen, wenn er an das Unbewusste, an das Dunkle, an das Mystische und Gefühlsmässige appelliert. Wir müssen uns also bemühen, unsere Ansprüche klarer, verpflichtender und unmissverständlicher zu begründen, als es denen gegeben ist, die mit dem historischen Vermächtnis von Generationen propagandistisch Missbrauch treiben.

Dazu gehört vor allem, dass man sich anderer Kategorien bedient, nicht nur ästhetischer, um den Daseinswert einer Literatur abzuleiten, die sich ebenso wenig auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt wie diè Emigration selbst, in der sie entstanden ist. Diese Literatur wird auch in Zukunft gute und schlechte Bücher produzieren, Liebesromane, Gedichte, Unterhaltungsstücke; sie wird auch, vielleicht, eines Tages das grosse Genie, die grosse Persönlichkeit hervorbringen, niemand wird es ihr verwehren, aber diese Frage ist im Grunde uninteressant. Entscheidener ist: was hat diese Emigration aus sich gemacht? Hat sie ihr einen Sinn gegeben? Hat sie die Zeit, die sie jenseits der Konzentrationslager verbringen durfte, dazu benutzt, neue Inhalte zu entdecken, neue Erkennt-

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nisse und Gestaltungsmöglichkeiten zu entwickeln? ‘Emigration ist kein Zustand, Emigration ist eine Verpflichtung’, wurde neulich in einer Pariser Schriftstellerversammlung gesagt. Auf die Literatur übertragen, heisst das: Emigration ist nicht nur ein von Hitler aufgezwungener Verlagswechsel, Emigration ist eine geistige Haltung.

Wir glauben, dass es bereits Beispiele gibt, an denen sich diese geistige Haltung ablesen lässt. Wir sehen sie in einigen neuen, klassisch schönen Sonetten Johannes R. Bechers, in denen sich eine kämpferische Ueberzeugung mit einer fast Hölderlinschen Schwermut verbindet; wir sehen sie in manchen - nicht allen - politischen Kampfgedichten Bert Brechts und in seinem ‘Dreigroschenroman’, der das deutsche Erlebnis historisch distanziert und mit bösem Spott und pädagogischem Witz der altenglischen ‘Beggars-Opera’ einverleibt; und wir sehen es, neben den schon von Menno ter Braak zitierten Schriften Heinrich Manns und Ernst Tollers, in den philosophischen Randbemerkungen Ernst Blochs und in der anklägerischen Zeitreportage von Friedrich Wolfs Aerztestück ‘Professor Mannheim’.

Dies alles sind gewiss erst Ansätze. Aber die Arbeit geht weiter. Sie wird darin bestehen müssen, aus sich selbst heraus neue Gesetze zu entwickeln, ohne den Kontakt mit der deutschen Wirklichkeit zu verlieren und an ihr den Masstab für ihre eigene Wirklichkeit zu kontrollieren. Indem sie versucht, den geographischen Abstand, der sie von den deutschen Ereignissen trennt, durch geistige Nähe zu überwinden, arbeitet sie daran mit, ein neues Deutschland vorzubereiten, das schon heute fragend und Antwort heischend, sich seiner zukünftigen Repräsentanten vergewissert.

 

DNT, 12 jan. 1935

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Zum Thema Emigranten-Literatur
Antwort an Andermann und Marcuse
Menno ter Braak

Den Artikel, den Erich Andermann im n.t.b. vom 5. Januar meinem Aufsatz über die Emigrantenliteratur gewidmet hat, könnte man auf die Formel zurückführen: ‘Freuen wir uns, wo das Genie fehlt, dass wenigstens das Mittelmässige lebt. Denn bei möglichst zärtlicher Therapie wird aus dem Mittelmässigen vielleicht (vielleicht!) einmal doch das Geniale entstehen.’

Gesetzt, diese Formel wäre richtig, so hätte ich gegen das Andermann'sche Plädoyer für die Mittelmässigkeit nichts einzuwenden. Leider ist die Welt zo beschaffen, dass Toleranz dem Mittelmässigen gegenüber nur noch Mittelmässigeres gebären kann, aber niemals Genie. Man soll sich also durch Sorgen um das künftige Geniale nicht davon abhalten lassen, die kritische Wahrhaftigkeit allen andren Erwägungen vorzuziehen. Ich anerkenne alle praktischen Schwierigkeiten der Emigrantenkritik und kann sehr gut verstehen, dass man nicht fortwährend ‘mit den Dreschflegeln der Unerbittlichkeit operiert’. Es gibt aber Taktik und Taktik, Unerbittlichkeit und Unerbittlichkeit. Man könnte zum Beispiel gute Unterhaltungsliteratur den Lesern ohne weiteres warm empfehlen, - aber eben als gute Unterhaltungsliteratur! Dass dagegen eine tolerante und überschwängliche Kritik nötig sei, damit einmal auch das wirklich Bedeutende zur Geltung gelangen könnte, scheint mir grundfalsch. Eine Kritik, die sich dieser Fiktion bedient (wenn auch mit den besten Absichten), fälscht die Werte, fälscht die Terminologie, fälscht das Urteil des ‘besseren’ Publikums. Und aus diesen diplomatisch gefälschten Werten würde das Geniale erblühen? Oder in dem Schatten dieser Werte würde das Geniale gedeihen? Das wird Erich Andermann wohl selbst nicht ganz glauben.

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Es kommt noch etwas hinzu. Wenn die Emigrations-kritiker sich auch in der Zukunft mit dem Kriterium des mittelmässigen Wertes (als einer Art machiavellistisch zu betrachtender Vorstufe zur Genialität) zufriedengeben, werden sie damit rechnen müssen, dass ihre Kollegen im Ausland aus diesem Verhalten Konsequenzen ziehen. Auch Erich Andermann wird verstehen, dass wir unseren nationalistischen Fachgenossen gegenüber die Emigration als eine europäische Idee und eine europäische Aufgabe auf die Dauer nur durch Berufung auf die Qualität verteidigen können. Eine Emigrationsliteratur, die sich darauf beschränken würde, nur eine ‘Fortsetzung des Betriebs’ zu sein, und die uns zwingen wollte, auch die Mittelmässigkeit in Kauf zu nehmen, würde uns diese Verteidigung fast unmöglich machen. An unzweideutigen Verhältnissen ist alles gelegen, gerade ‘abseits von der Reichskulturkammer’, Taktik dagegen verschleiert nur. Die Taktik, die Erich Andermann empfiehlt, wird vielleicht dem ‘grossen’ Publikum, das nur Worte liest und an Worte glaubt, nicht als Taktik erscheinen. Um so mehr aber wird sie in den Kreisen Misstrauen erregen, die sich der Relativität der Worte schon an und für sich bewusst sind und eben deshalb höchsten Wert legen auf eine Kritik, die sich nicht überdies noch durch Diplomaten-methoden von ihrer Aufgabe ablenken lässt.

 

Als meine Antwort an Erich Andermann schon geschrieben war, las ich den Aufsatz von Ludwig Marcuse in der Nummer vom 12. Januar. Er formuliert den Andermann'schen Standpunkt noch schärfer. Nach diesen beiden parallel gerichteten Artikeln will es mir scheinen, dass meine Auffassung, die Emigration sei ein europäisches Geschehen, den ‘offiziellen’ Emigrationsautoren fremd und sogar zuwider ist. Habe ich mich also geirrt, als ich 1933, ohne Rücksicht auf literarische Qualitäten zu nehmen, mich sofort für die Idee der deutschen Emigration entschied? Die nach meiner Meinung vollkommen richtigen Bemerkungen von Hans Sahl in derselben Num-

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mer des n.t.b. haben mich wieder einigermassen getröstet. Denn sich ‘plus émigré que les émigrés’ fühlen zu müssen, wäre eine paradoxe, dabei aussichtslose Situation.

Auch Ludwig Marcuse stellt fest, dass eine ‘Emigrationsliteratur’ eigentlich nicht existiert. Aber er geht weiter als Erich Andermann: er will nicht einmal, dass sie existieren soll. Denn der Nationalsozialismus ist ihm ‘kein geistiges Ereignis, keine ebenbürtige Antithese’; Marcuse behauptet, er sei ‘im tiefsten unbewegt von dieser Bewegung’. Dieser olympische Satz bestimmt das Verhältnis Marcuse-ter Braak, das man in dieser Lage (von Grössen-Unterschieden abgesehen) gewissermassen dem Verhältnis Goethe-Heine gleichsetzen könnte. Ich schliesse aus den Worten Marcuses, dass die Emigranten, sobald sie nach Deutschland zurückkehren werden, sich wie die Bourbons nach dem napoleonischen Zeitalter verhalten werden: sie werden nichts gelernt und nichts vergessen haben. Schade! Denn auch aus nicht geistigen Ereignissen und nicht ebenbürtigen Antithesen soll und kann man etwas lernen, und man könnte in der Emigration nicht nur die Zentren der vorhitler'schen ‘Ebenbürtigen’, - früher das ‘Romanische Café’, später das Eden-Hotel, - gründlich vergessen, sondern sich zum Beispiel auch bemühen, über das Problem des ‘Geistigen’ an sich nachzudenken. Der Nationalsozialismus ist eine Bewegung, die auch ihren Begriff vom ‘Geist’ hat (ich habe mich damit auseinandergesetzt in einem Aufsatz ‘Geist und Freiheit’ in der Holland-Nummer der ‘Sammlung’). Dieser Begriff von Geist, der typische Massenbegriff, der sich in der Kehlkopf-Philosophie Hitlers und dem ‘Babyface’ unseres Mussert verkörpert, enthält auch für uns allerlei Belehrendes, wenn wir uns nicht darauf beschränken, einfach olympisch die Nase zu rümpfen über den Goebbels'schen Kitsch. Denn was hat man von seinem geistigen Geist, wenn man damit schliesslich nur eine Kuriosität wird und sonst nichts? Die stolze Ueberlegenheit Marcuses, der nicht einmal dazu gelangt, eben seine Geistigkeit als Problem zu sehen, riecht schon nach Kuriosität, und es fragt

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sich wirklich, ob diese schriftstellerische ‘autarkeia’ im heutigen Augenblick für das Prestige der Emigration nicht weit gefährlicher zu werden droht als die Autarkie der bodenständigen Wirrköpfe. Glücklicher Marcuse! Seine Weltanschauung liegt fast ebenso fest vor Anker wie die nicht ebenbürtige Weltanschauung Rosenbergs! Muss man auch dem durchgeistigten Literaten Marcuse erst noch das zu wenig gelesene Buch Max Stirners, oder sogar ‘Die Rebellion der Massen’ von Ortéga y Gasset, empfehlen?

Ueber die Kritiklosigkeit der Emigrationskritiker (die er mir zugibt) äussert Ludwig Marcuse sich nicht anders als Erich Andermann und ich darf darum auf meine Antwort an diesen verweisen. Ich will noch einmal betonen, dass ich volles Verständnis habe für die ökonomischen Schwierigkeiten, mit denen die Emigrationsliteratur zu kämpfen hat, und dass ich weder die ‘Dreschflegel’ von Erich Andermann noch das ‘Henkerbeil’ von Ludwig Marcuse unausgesetzt als kritische Waffen handhaben möchte. Man braucht darum aber noch nicht die kritische Terminologie unausgesetzt abzuschwächen Dass Ludwig Marcuse demgegenüber auf die Kameraderie in anderen europäischen Literaturen hinweist, ist an sich schon ein wenig zielbewusstes Argument (als ob Hitler sich für den 30. Juni durch Hinweis auf die augenblicklichen Ereignisse in Russland entschuldigen könnte!). Obendrein aber ist es auch falsch. Denn ich habe nichts gegen Kameraderie geschrieben; sie ist meiner Meinung nach eine unumgängliche Begleiterscheinung der Literatur überhaupt. Alles hängt davon ab, wie man ‘Kameraderie’ interpretiert: ob als Freundschaft oder als ‘Clique’. Freundschaft macht nicht unkritisch. Die Clique dagegen ist die Kritiklosigkeit zum System, zum ‘Betrieb’ konsolidiert. Hat Ludwig Marcuse die Absicht, diese zweite Art Kameraderie als Grundlage der Emigrantenliteratur zu schützen, zu fördern und zu kanonisieren? Dann hätte er tatsächlich nur erreicht, dass ich meine Auffassung von der Emigrantenliteratur als einer Literatur, die auch unsere, das heisst: eine europäische Sache ist, widerrufen müsste. Hoffent-

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lich aber habe ich ihn in diesem Punkt nicht richtig verstanden.

 

DNT, 19 jan. 1935