Ernst Bloch
Metaphysisches zu Fidelio

Nirgends brennen wir genauer.

Leid, wirre Hoffnung, Magie einer Treue ohne gleichen, in Pizarro der Dämon dieser Welt selbst auf der Bühne, und nun das ungeheure Grundspiel von Kampf, Not, Trompetensignal in die letzte Finsternis, Auferstehung.

Von Anfang an spannt sich der Ton, ladet. Schon im leichten Vorspiel zwischen Marzelline und Jaquino ist Unruhe, ein Klopfen nicht nur von aussen. Alles ist auf die Zukunft gestellt, selbst der Bedacht Roccos; auch darin gärt und zielt diese Musik, blosser Wille, glücklich zu werden. Aber zugleich geschieht in diesem Drängen Vorwegnahme, ein Mitspielen des fernen, wahren Jetzt und Da, als wäre es schon hier. Der ‘innere Trieb’ schäumt ebenso rasend an seinen Wiederständen auf, wie er sein Zielbild in sich hat. Nicht-Haben und Haben zugleich, wie alle Liebe, erst recht wie die Treue. Scheu und bedroht lebt dieser ‘Stern der Müden’, in die Gegenwart ungeheuerer Gefahr eingebettet, doch ebenso fest und immerhin utopisch präsent. ‘Meinst du, ich könne dir nicht ins Herz sehen?’, fragt Rocco Leonore; und nun zieht sich die Szene zusammen, im Andante sostenuto eines Gesanges, der überhaupt nichts als sein Wunderbar aussingt, auf lauter Dunkelheit aufgetragen. Marzelline singt es für Leonore, die erst in der Ekstase ihren Farbenbogen und Stern sieht. Im Fürsich des Quartetts glänzte dies ferne Ziel noch still, aber in der grossen Arie Leonores, im Gefangenenchor, in der Fieberekstase Florestans grell und hoch; nicht nur als Farbenbogen, sondern als Visionslicht ohnegleichen, in ungeheuren Schlusskadenzen auf-

[p. 432]

steigend. Ja zuweilen erscheint das utopische Präsens, auf das Fidelio insgesamt aufgetragen ist, noch tiefer. Als ein merkwürdiger Bann, als Augenblick, in dem sich gerade der ‘Augenblick’, die Höhe des erregtesten Lebens selber fasst, die rasende Musik gleichsam senkrecht in sich hineinschlägt und verweilt. Diese Art präsent zu sein, dehnt sich wenig aus, ist nicht breit versenkt wie das erste Quartett oder ekstatisch weit wie die Arien Leonores und Florestans. Doch ebensowenig ist sie ein blosser flüchtiger Blitz, sondern eben jener Augenblick klingt an, den Faust verweilen lassen möchte und der doch dadurch nicht aufhört, ‘Augenblick’ zu sein. Seine senkrecht unergründliche Tiefe hat Dimension genug, um nicht flüchtig zu geraten; dennoch lässt sie sich immer nur ungefähr als Verweilen in der Zeit, in weiter Arien-und Chorentwicklung transponieren. Der hohe Schrei Leonores: ‘Töt' erst sein Weib!’, das Trompetensignal, doch auch die ungeheure Ruhe des Flötengesangs dahinter hat diese gleichsam senkrechte Ewigkeit, als die das Jetzt und Da absoluter Nähe erscheint. Ihr Wesen ist Glorie tief innen, gleich, welches Tempo, ja fast gleich, welcher empirisch schon definierbare Ausdruck hier gestellt wird. ‘O, Gott! welch ein Augenblick!’ singt Leonore an der höchsten Stelle des Werkes, ganz umgeben von Musik des Jetzt; alle Wege Fidelios führen nach diesem Rom. Seine Musik wird daran völlig unmittelbar, aus dem Prozess und der Strategie heraus, ‘seiend’ wie sonst nichts auf der Welt.

Nicht grundlos, dass damit auch jedes Gesicht übermässig wird. Beethoven hat Mühe zu verkleinern, in diesem Raum sprengt fast alles ans Ende. Fidelio steht an sich im Zusammenhang der ‘Rettungsopern’ deren es zu seiner Zeit manche gab; der Bastillensturm hallte nach. Doch in Fidelio hallt er nicht bloss nach, sondern Beethovens Musik hat Revolution schlechthin als Handlungsraum. Ohne weiteres verwandelt sie den Text revolutionär, aus einer blossen, wenngleich grossartigen Kolportage von Gattenliebe, ist Geburt der Revolution, unaufhörlich, unnachlasslich, aus dem Geist dieser Musik. Beethoven setzt den revolutionären Akt neu, aus dem gleichen Ursprung nochmals in anderer Sphäre begonnen. Wie in ihrem ersten, bald verlassenen Impuls, wie von der Zukunft ihres absoluten Beginns her kommt uns hier Revolution entgegen: als Zersprengung des Status, Anbruch der Freiheit. Damit hält sich der Revolution zugleich ihr absoluter Horizont, in Fidelio ist schlechthin apokalyptisches Dunkel und Licht, die Symbolik seiner Gestalten, Signale, Triumphe ist vom tausendjährigen Reich. Noch nicht bei Marzelline, Jaquino, Rocco, den Nebenfiguren, zuerst lebensgross, zuletzt fast unsichtbar, tief unten. Aber in Leonores Treue geht noch ganz andres um, Erniedrigung, ja Höllenfahrt in den Kerker hinab. Und trägt die Musikgestalt Pizarro nicht alle Züge des Pharao, Herodes, Gessler, Fenriswolfs, ja eben des gnotischen Satan, der uns in den Weltkerker brachte und festhält? Welch ungeheure Gründe klingen erst im Trompetensignal mit, in diesem seinem Augenblick, ganz hohe Zeit, gerufen, vermittelt im Letzten undermittelt wie pure Gnade und Ankunft des Gottes. Dazu bedarf es keiner Assoziationen, wie in schlechter Musik, sondern so hört man die Posaunen von Jericho, und die Mauern fallen, als metaphysisches Ereignis wiedergebracht. Ja, das volle Requiem tönt an, die Posaune des Jüngsten Gerichts, der Schall der letzten Posaune, der verwandelt im Augenblick; dem Pizarro lauter dies irae, den Geretteten tuba miram spargens sonum, so wie der gleiche Gott den Bösen als Hölle, den Gerechten als Himmel erscheint. Und wie geheimnisvoll sind Leonore und Florestan diesem Signal verbunden; es folgt dem letzten Laut Leonores in wahrhaft erfüllender Tonika, namen-namenlose Freude ist nicht mehr von dieser Welt, Marsch wird Choral, als ecclesia triumphans stehen die Befreiten im Licht, ihr Preis Leonores ist purer Mariengesang der Seligen geworden, ja ihre Freiheit tönt über alle gekannten Jubel, Tiefen, Inhalte hinaus. Dies Signal ist ein Morgenrot, dessen Tag noch nicht gekommen ist; im Abglanz des Fidelio ist er mit am genauesten verborgen.