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E.J. Gumbel
Klassenkampf und Statistik
Eine programmatische Untersuchung

De statistiek is op zich zelf een geheel logische methode. Door haar toepassing binnen het raam van een bepaald ekonomisch systeem past zij zich echter aan het karakter van dit systeem aan. De schrijver toont aan, hoe de tegenwoordige statistiek reeds door haar engen samenhang met de ekonomie, ook het hoofddoel van deze wetenschap: verdediging van het tegenwoordige, kapitalistische ekonomische systeem, tot de hare maakt. Dit karakter van de statistiek blijkt het duidelijkste uit de grenzen, die zij zich stelt.
De omvang van deze taak brengt het met zich mee dat dit artikel een hoofdzakelijk programmatisch karakter draagt. Desondanks worden de hoofdproblemen der geheele statistiek behandeld.
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La statistique elle-même suit une méthode purement logique. Par leur application dans le cadre d'un système économique quelconque, elle s'adapte cependant au caractère de ce système. L'auteur démontre comment les statistiques actuelles, du fait de leur étroit rapport avec l'économie, doivent admettre, à leur tour, le but principal de cette science, savoir: défense du système économique moderne, le capitalisme. Cette tendence des statistiques apparaît le plus clairement dans les limites qu'elles se prescrivent.
L'importance de la tâche entraîne que cet article ne peut avoir que le caractère d'un programme. Néanmoins il traite les problèmes principaux des statistiques dans toute leur étendue.
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Statistics in itself is a purely logical method. By adapting it to an economic system, however, its character changes according to this system. The Author shows that to-day Statistics, on account of their close connection to the Economic Science, have also to follow the chief task of this science in defending the present economic system: capitalism. This tendency of Statistics is seen most clearly in their limitations.
As this task applies to all existing statistics the present essay can only be a programmatic one. Nevertheless, the chief problems of Statistics are referred to.
I.Natürliche und sozial bedingte Grenzen der statistischen Erkenntnis.
II.Bevölkerungsstatistik.
III.Moralstatistik.
IV.Wirtschaftsstatistik.
V.Schlussfolgerungen.

I. Die Statistik ist eine spezifische Wissenschaft des Kapitalismus, aber auch vom Kapitalismus. Des Kapitalismus, weil sie in ihrer heutigen Form erst unter dem kapitalistischen System eutstehen konnte. Erst als die Frühperiode des Kapitalismus fest umrissene Staaten mit bürokratischen Apparat entstehen liess, wurde sie notwendig. Das feudale Gemeinwesen hatte sie noch nicht nötig. Hier konnten die geringen Aufgaben der Verwaltung ohne weiteres übersehen werden. Die Statistik ist aber auch eine spezielle Wissenschaft vom Kapitalismus, insofern als sie, wenn genügend ausgestaltet, uns theoretisch erlaubt, in die Prozesse der Produktion, der Distribution und der Konsumtion innerhalb des kapitalistischen Systems, als des jetzt herrschenden. Einsicht zu nehmen. In diesem Sinne ist das kapitalistische Wirtschafssystem Voraussetzung und Objekt der Statistik. Die Voraussetzung ist hinreichend, aber nicht notwendig. Denn auch Gemeinwesen, welche den Kapitalismus bereits überwunden haben, werden ohne Statistik nicht auskommen. Je organisierter die Wirtschaft, desto grösser die Rolle der Statistik.

So hat das kapitalistische System der Statistik Eutstehung gegeben. Aber es gibt der Statistik auch spezifische Hemmungen und Grenzen, und mit ihnen haben wir uns im folgenden zu beschäftigen. Eine solche Untersuchung ist an sich nicht neu. Schon in den üblichen Lehrbüchern pflegen solche Probleme angeführt zu werden. Aber weder auf die soziale Begründung, noch auf das Wesen dieser Hemmungen wird dort eingegangen. Es sind zu unterscheiden: natürliche Grenzen, die im Wesen der statistischen Erfragungsmöglichkeit liegen, und soziale Grenzen, d.h. Grenzen, die im Wesen des Wirtschaftssystems liegen, innerhalb dessen Statistik getrieben wird. Innerhalb des Feudalsystems sind die Grenzen so eng, dass sie die Statistik unmöglich machen. Innerhalb des Kapitalismus sind sie zwar weit, aber doch von ausserordentlich wirkungsvoller Natur.

Jede Statistik beruht entweder auf einer direkten Befragung der an dem betr. Vorgang Beteiligten, oder auf einer aus ursprünglich nichtstatistischen Gründen vorgenommenen Registrierung. Aus beiden Wurzeln ergeben

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sich auch Grenzen. Die natürlichen Grenzen der Statistik liegen im Wesen der Erfragungsmöglichkeit. Erfragbar im statistischen Sinne sind hauptsächlich numerisch bestimmte einfache Tatsachen, vor allem aus dem Gebiet der unmittelbaren Gegenwart, deren Beantwortung ohne weiteres möglich ist. Praktisch unmöglich in den meisten Fällen ist schon die Ursachenerforschung sowohl bei objektiven, noch mehr bei subjektiven Vorgängen, am stärksten bei Vorgängen, die die Menschen aus persönlichen Gründen geheimhalten wollen und deren Bekanntgabe inopportun ist. Obwohl dies noch natürliche, d.h. im Wesen der Statistik liegende Grenzen sind, kommt hier bereits ein sozialer Faktor herein, da der die Beantwortung entscheidende Standpunkt der Sittlichkeit, Schicklichkeit oder der Interessen nicht von der Natur, sondern von den sozialen Umständen bedingt ist. Aus psychologischen Umständen gibt es auch eine Grenze für die Zahl und Häufigkeit der statistischen Fragen, doch hängt dies schon mit dem Grad der inneren Bejahung zusammen, die der Befragte den Interessen der Statistik entgegenbringt, mit seiner eigenen Bildung und seiner Einstellung zum Fragenden, also meistens dem Gemeinwesen. Ein Gemeinwesen mit gehobener allgemeiner Bildung, wo das Bewusstsein herrscht, dass die Regierung im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung wirkt, wird ganz andere und weitergehende Fragen an seine Angehörigen stellen können, aber auch müssen. Eine fernere Grenze der Statistik liegt darin, dass nicht mehr Merkmale erhoben werden sollen, als ausgebeutet werden können. Eine Gemeinschaft, deren Gesamtproduktion planmässig vor sich geht, wird viel mehr zu fragen haben, aber auch viel mehr Fragen bearbeiten müssen, als die jetzige planlos wirtschaftende Gesellschaft. So wird die Planwirtschaft eine Grenze der statistischen Fragestellung aufheben.

Die spezifisch sozialen Hemmungen der Statistik liegen in dem Interesse der herrschenden Klasse begründet, welche nicht erlauben kann, dass diejenigen Dinge der Statistik unterworfen werden, durch deren Bekanntgabe ihre materiellen Interessen leiden, die sozialen Prätensionen und Fiktionen, auf denen ihr System beruht, erschüttert werden. Von diesen Hindernissen pflegt in der üblichen statistischen Literatur nur die Steuerfurcht angegeben zu werden. Aber die Hindernisse sind weit zahlreicher und tiefer veranlagt. Die herrschende Klasse kann dem analytischen Blick der Statistik keine wirkliche Einsicht in manche fundamentale wirtschaftliche und durch sie bedingte soziale Vorgänge gewähren, ohne ihre eigenen Interessen zu verletzen. Neben Begrenzung und Hemmung der Statistik, also Unterlassung von Untersuchungen, treten aber positive Beeinflussungen sowohl in der Richtung der Fragestellung, wie der Ausbeutung des Resultates, wie in der wissenschaftlichen Untersuchung auf. Auch hiermit haben wir uns zu befassen.

Der Zusammenhang dieser, von den Statistikern als Schönheitsfehler anerkannten Mängel mit dem Klassenkampf ist naheliegend. Denn eine herrschende Klasse muss selbstverständlich alle Bildungsmöglichkeiten im Interesse ihrer Herrschaft ausnützen. Hier ist die Statistik ein nicht zu verachtender Faktor. Wenn man die Gesamtheit der Mittel, durch die sich eine herrschende Klasse am Ruder hält, als ihren Klassenkampf bezeichnet, so ist ein ideologischer und ein praktischer Klassenkampf zu unterscheiden. Die Verwendung der Statistik gehört zum größten Teil zum ideologischen Klassenkampf. Schon die Tatsache, dass die Lehrbücher von der sozialen Fundierung der Hemmungen nicht sprechen, ist ein Teil des ideologischen Klassenkampfes. Wenn wir vom Klassenkampfcharakter der heutigen Statistik sowohl in den Lehrbüchern wie in den Quellenwerken sprechen, so darf dies aber nicht dahin aufgefasst werden, als wenn dieser Zustand den betr. Verfassern bewusst sein müsste. Im Gegenteil, gerade die Herbeiführung eines Zustandes mangelnden Bewusstseins ist ein wesentliches Kampfmittel. So dient die sich für objektiv haltende Wissenschaft der herrschenden Klasse als Schutzmittel.

Unsere Arbeit hat ein doppeltes Gesicht. Einerseits negativ zu zeigen, wie innerhalb der Statistik auf Schritt und Tritt Hemmungen auftreten, die eine gründliche Untersuchung in einer Richtung verhindern, in der Resultate zu erwarten wären, welche dem herrschenden System unangenehm sein könnten, andrerseits positiv zu zeigen, welche Waffen schon die heutige unvollstän-

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dige Statistik der Arbeiterschaft in ihrem Kampf liefern kann.

Innerhalb der heute vorliegenden Statistik existieren wohl Ansätze zu einer solchen sozialen Betrachtung, aber die Zusammenfassung unter einheitlichem Gesichtspunkt fehlt. Eine Aufgabe von diesem Ausmass kann natürlich nicht in einem Artikel gelöst werden; denn an sich setzt sie die Durchsicht der ganzen vorliegenden Statistik und die Aufstellung spezifischer Fragestellungen voraus und verlangt den Aufbau eines neuen Systems, das nur kollektiv geschehen kann. Im folgenden kann es sich also nur darum handeln, zunächst die Gebiete soldier Untersuchungen festzustellen und an einzelnen ausgewählten Beispielen klarzulegen, wie diese kommende Arbeit anszusehen hat. Wir müssen uns also im wesentlichen mit der bescheidenen Feststellung eines Desiderats begnügen.

Zunächst ist falsch angewandte Statistik das beliebteste Mittel des Betrugs. Deswegen ist logische Richtigkeit der Methoden das erste Postulat, das an die Statistik zu stellen sein wird. Dieses allgemeine Problem der richtigen Zielsetzung fällt nicht unter unsere Fragestellung, weil der statistischen Methode an sich ebensowenig ein Klassencharakter innewohnt, wie etwa der Arithmetik oder der reinen Logik. Anfechtbar innerhalb des statistischen Verfahrens können nur einzelne Anwendungen, ja vielleicht das ganze System der bestehenden Anwendungen sein. Der Tiefstand der heutigen Statistik hängt intim mit dem Fehlen einer selbständigen methodologischen Fragestellung zusammen. Diese wiederum ist durch die übliche Verkoppelung der Statistik mit der bürgerlichen Nationalökonomie bewirkt. Diese hat ihre Unfähigkeit der Erkenntnis der Ursachen der Katastrophen der letzten Jahre und der Mittel ihrer Bekämpfung deutlich genug bewiesen. Die Nationalökonomen haben berechnet, dass der Krieg nur kurze Zeit dauern könne, willfährige Statistiker haben bewiesen, dass dieses oder jenes Land spätestens in 2 Monaten aus ökonomischen Gründen zusammenbrechen müsse; endlich war die Nationalökonomie unfähig, sich rechtzeitig über das doch an sich gewiss einfache Problem der durch die Inflation geschaffenen Geldentwertung klar zu werden und die zur Beseitigung dieses Übels notwendigen Maßnahmen rechtzeitig zu verlangen. Das Elend der Statistik ist nun, dass sie mit einer solchen Wissenschaft, deren Sinn die Bejahung des kapitalistischen Systems geworden, aufs intimste verknüpft ist. Eine sozialistische Ökonomie, die gegenüber den letzten Katastrophen nicht versagt hat, gibt es wohl. Aber es gibt noch keine sozialistische Statistik. So ist der Klassencharakter der heutigen Statistik schon durch ihre Verbinduug mit der bürgerlichen Nationalökonomie gegeben.

Im folgenden werden wir den Klassencharakter der heutigen Statistik am Inhalt wie an der Begrenzung an Hand ihrer einzelnen Teile zeigen. Die Statistik zerfällt, abgesehen von der Methodenlehre, in die Bevölkerungsstatistik, in die sogen. Moralstatistik und in die Wirtschaftsstatistik.

 

II. Zahlreiche Statistiker betrachten es - natürlich ohne es auszusprechen - als die Hauptaufgabe der Bevölkerungsstatistik, die Richtigkeit der Malthus'schen Theorien zu beweisen. Danach ist der Haupteinwand gegen die heutige Gesellschaftsordnung, die Tatsache, dass trotz alles Fortschrittes der grösste Teil der breiten Massen im Elend lebt, falsch formuliert. Diese Tatsache sei nämlich nicht die Folge einer falschen Organisation der Gesellschaft, sondern naturgesetzlich notwendig. Die Unterhaltsmittel haben nur die Tendenz, sich arithmetisch zu vermehren. Die Bevölkerung aber hat die Tendenz, sich um einen konstanten Faktor zu vermehren. Also im ersten Fall wird eine Konstante addiert, im zweiten mit einer Konstanten multipliziert. Da die Bevölkerung durch die ihr zur Verfügung stehenden Unterhaltsmittel beschränkt ist, müssen beide Entwicklungstendenzen in Konflikt kommen: am Tisch des Lebens sind nicht genügend Gedecke für alle Gäste. Daher muss der Teil der Bevölkerung, der über die Unterhaltsmittel hinaus vorhanden ist, absterben. Dies kann geschehen durch akute Hungersnot, Krieg oder soziales Elend. Deswegen, so predigt Malthus, brauchen die Arbeiter nur ihre Vermehrung einzustellen und zwar durch geschlechtliche Enthaltsamkeit - nicht etwa durch Verwendung von Geburten verhütenden Mitteln - und das Gleichgewicht ist hergestellt. Da die Arbeiter dies nicht tun, so sind sie an ihrem Elend

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selbst schuld und kein ‘System der Gleichheit’ kann ihr Elend vermindern. Jeder Versuch einer neuen und gerechteren Verteilung ist unmöglich, da die Bevölkerungsvermehrung sehr rasch die Verteilung stören und den alten instabilen Zustand wieder herstellen würde. Obwohl diese Lehre bereits historisch als politisches Mittel, nämlich zur Bekämpfung des Sozialisten Godwin aufgestellt wurde und sich als ein politisches Mittel des Klassenkampfes darstellt, wird sie noch heute als eine abstrakte, wissenschaftliche Theorie behandelt. So deutlich dies ist, so haben doch selbst hervorragende Sozialisten diesen einfachen Zusammenhang nicht verstanden.

Die Kritik dieser Lehre hat einzusetzen zunächst bei der Behauptung von der geometrischen Vermehrungstendenz der ungehemmten Bevölkerung. Eine solche Bevölkerung ist vollkommen undefiniert und undefinierbar. Sie hat nie existiert und kann nie existieren. Die zugrunde liegende Analogie mit der Vermehrung eines Kapitals durch Zinseszinsen ist widersinnig, da die kleinen Kinder nicht zeugungsfähig sind.

Überdies stellt das Malthus'sche Gesetz ein deutliches Beispiel für ein typisches quid pro quo dar. Es wäre nämlich an sich nicht unmöglich, dass es durch bestimmte wirtschaftliche Vorgänge ausgezeichnete Zeiten gibt, in denen so etwas wie ein Malthus'sches Gesetz gilt, d.h. wo eine durch irgend welche Umstände stark gewachsene Produktivität der Arbeit mehr Menschen Unterhalt gab, die dann durch einen Nachlass in der Produktivität keine Nahrung mehr finden können. Nun versucht ein grosser Teil der bürgerlichen Nationalökonomen ihre Gesetze nicht als Sozialgesetze, sondern als Naturgesetze hinzustellen. Sozialgesetze haben nur eine bedingte Gültigkeit, und sie beruhen stets auf der Voraussetzung des Bestehens der jeweiligen Produktionsverhältnisse und der daraus entstehenden Machtverteilungen. Naturgesetze hängen aber nur von im wesentlichen als konstant zu betrachtenden Gegebenheiten ab und sind unabhängig von den sozialen Bedingungen. Indem nun die Angabe der sozialen Bedingungen für die Gültigkeit eines Gesetzes unterlassen oder vielmehr die weitere Gültigkeit der jetzt herrschenden Bedingungen stillschweigend vorausgesetzt wird, versucht man ein solches Gesetz als allgemein gültig zu postulieren und dadurch jeden Widerspruch nicht nur als erfolglos, sondern als a priori unsinnig hinzustellen.

In neuerer Zeit ist übrigens durch die fallende Geburtenziffer der Grundbau der Malthus'schen Theorie unterhöhlt. Trotz der unzweifelhaften Besserung der sozialen Lage, die für den Durchschnitt der Gesamtbevölkerung Europas seit den Zeiten von Malthus eingetreten ist, vermehrt sich die Bevölkerung heute nicht stärker als damals; im Gegenteil, überall fällt die Geburtenziffer. Nun wird umgekehrt wie früher in der Entvölkerung die Gefahr gesehen. Die Vermehrung der Bevölkerung gilt als ein schon an sich erstrebenswertes Ziel. Dies vermögen wir nicht einzusehen. Denn diese Auffassungen laufen meist auf eine - wenn auch häufig unbewusste - Annahme des militärischen Standpunktes hinaus. Danach hat ein grösseres Volk ein Anrecht auf ein grösscres Gebiet, d.h. die in ihm herrschende Schicht das Recht, sich durch Ausbeutung grösserer Gebiete grössere materielle Güter anzueignen. Da die Erwerbung neuer Gebiete somit ein Glück für ‘das Volk’ ist, und da ein Sinken der Geburtenziffer die Zahl der Soldaten vermindert, die man zu solchen Eroberungskriegen braucht, so wird sie als Unglück betrachtet. Das offene Zugeständnis dieser Argumentation ist selten. Daher haben sogar Sozialisten sich solchen Gedankengängen angeschlossen. Gewöhnlich wird die Argumentation verschleiert. Man spricht von der Gefahr des Aussterbens einer Rasse und ähnlichem mehr. Demgegenüber muss zuerst der soziale Standpunkt vertreten werden: Natürlich wäre das Aussterben einer Nation wegen der Kulturwerte, die jede Tradition verkörpert, auch für den Sozialisten bedauerlich. Aber von solchen Konsequenzen sind alle Nationen heute ausserordentlich weit entfernt, besonders deswegen, weil neben der Geburtenziffer auch die Sterbeziffer gesunken ist, und noch weiter gesenkt werden könnte, sodass die praktische Rate der Bevölkerungsvermehrung selbst bei sinkender Geburtenziffer erhöht werden könnte. Es könnte sogar unter Umständen die sinkende Geburtenziffer für die Arbeiterschaft ein Vorteil sein, wenn nämlich hierdurch die industrielle Reservearmee sich vermindern würde. Doch wird

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hiervon schon wegen der Einwanderung praktisch nicht die Rede sein können. Ausserdem kann, wenn auch nur unter gewissen Bedingungen, ein Fallen der Geburtenziffer in einem übervölkerten Land eine Erleichterung manchen sozialen Drucks erwirken. Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Begriff der Übervölkerung einer objektiven Bedeutung entbehrt. Vielmehr hängt der Grad der Übervölkerung vou dem herrschenden Wirtschaftssystem und dem Mass seiner jeweiligen Leistungsfähigkeit ab. In den letzten Jahren konnte z.B. der grösste Teil Europas, gemessen am Ertrag des jetzt herrschenden Wirtschaftssystems, als übervölkert angesehen werden. Denn die wirtschaftliche Schädigung des Krieges, während dessen 4 Jahre nichts produziert wurde, und des Nachkrieges, die durch die Art der Friedeusschlüsse und die Methode ihrer Erfüllung, d.h. die Verteilung der aus ihr erwachsenen Lasten hervorgerufen sind, endlich die Verluste in den arbeitsfähigsten Altersklassen bewirkten, dass für die Übrigbleibenden ein geringeres Mass von Produkten zur Verfügung stand, als vor dem Krieg. Trotz dieser Erkenntnis sind die National-ökonomen, z.B. in Deutschland, von den einfachsten Forderungen einer praktischen Bevölkerungspolitik, die sie von ihrem bürgerlichen Standpunkt hätten stellen können, zurückgewichen, wie Aufhebung des Verbots der Abtreibung, Beschlagnahme von Siedlungsland, um hierzu geeignete Teile der Stadtbevölkerung auf dem Lande unterzubringen, und zwangsweise Ausschaltung objektiv degenerierter Bevölkerungsteile von der Erzeugung einer die Gemeinschaft belastenden Nachkommenschaft. Denn solche Massnahmen - obwohl innerhalb des Rahmens der heutigen Gesellschaft dürchführbar - scheinen doch revolutionär.

Übervölkerung ist also wesentlich sozial bedingt, was man auch daraus sieht, dass das bevölkerungsarme Irland alle Kennzeichen der Übervölkerung aufweist.

Die üblichen Argumente gegen die fallende Geburtenziffer sind von unserem Standpunkt unberechtigt. Allerdings tritt für die Sozialisten ein neues Argument auf: eine abnehmende Geburtenziffer hat den Nachteil, dass die relative Grösse der unproduktiven Altersklassen stets zunimmt. In den künftigen Jahren, in denen die jetzt Geborenen arbeitsfähige Altersklassen sind, wird auf sie bei einer gerechten Verteilung der Produktion weniger entfallen können, da eine immer wachsende unproduktive Schicht erhalten werden muss. In der kapitalistischen Gesellschaft allerdings spielt dieser Nachteil gegenüber den sonstigen Ungerechtigkeiten der Distribution keine Rolle.

In engem Zusammenhang mit den allgemeinen Problemen der Bevölkerungsstatistik stehen die Untersuchungen über Geburtlichkeit und Sterblichkeit. Hauptproblem ist hier für uns die Gesundheit der einzelnen Klassen: sind die Menschen vor dem Tode gleich? Schon relativ einfache Betrachtungen zeigen, dass die Sterblichkeit vom sozialen Rang des Individuums abhängt, d.h., dass die Gesundheit als statistische Erscheinung klassenmässig fundiert ist.

Ein besonders wichtiges Problem ist die so differenzierte Erfassung der Kinder- und Säuglingssterblichkeit. Die Säuglingssterblichkeit hängt nämlich mit der Höhe der Geburtenziffer, aber auch mit der sozialen Lage zusammen. Bereits beim Eintritt in das Leben als Säugling ist der Proletarier stärker bedroht als der Bürger. Dies zieht sich durch sein ganzes Leben dahin. Daher interessieren Untersuchungen, wie die einzelnen Klassen durch die verschiedenartigen Krankheiten bedroht sind. Einzelne Untersuchungen über die spezifischen Berufen eigene Sterblichkeit liegen bereits vor. Solche Untersuchungen sind vor allem um dessentwillen schwierig, weil nirgends in der Statistik die Klassenlage isoliert auftritt; vielmehr ist sie stets mit anderen Merkmalen, z.B. Geschlecht, Alter, Beruf, Wohnort usw. verbunden. Daher gilt es, eine reinliche Differenzierung nur nach einem Punkt, der sozialen Lage, durchzuführen. Innerhalb der gewöhnlichen Statistik ist dies technisch gar nicht möglich, man braucht vielmehr hierzu die mathematische Theorie der Attribute.

Der grösste Teil der heute bestehenden Krankheiten ist irgeudwie sozial fundiert, aber die heutige Bekämpfung greift nur die äusseren Symptome an und läßt die inneren sozialen Ursachen der Krankheitsverbreitung unberührt. Allerdings gibt es auch Krankheiten, bei denen bisher die soziale Komponente nicht nachgewiesen werden konnte. Es wäre interessant zu unter-

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suchen, ob dies eventuell an Beobachtungsfehlern liegt. Bei der Tuberkulose und ähnlichen Krankheiten ist der Einfluss der sozialen Lage augenscheinlich. Aber ist er es auch beim Krebs?

Bei der Todesursachenstatistik zeigt sich eine interessante Beschränkung. Zwar sind die Schemata der Todesursachen sehr fein ausgearbeitet; auf zahlreichen Kongressen haben sich die Statistiker darüber geeinigt, wenn auch die praktische Durchführung dieser Normalisierung noch nicht erfolgt ist. Aber überall fehlt die für uns wichtigste Todesursache, das Verhungern. Nur ganz ausnahmsweise erfahren wir etwas über diese sozial interessanteste Todesursache; dann nämlich, wenn es plötzlich das Interesse einer Regierung ist, nicht zu beweisen, wie gut, sondern wie schlecht es in ihrem Lande aussieht. Diesem Interesse verdanken wir das Wissen um die Tatsache, dass in Deutschland während des Krieges etwa 700.000 Menschen verhungert sind. Das wurde erst 1919 errechnet und bekanntgegeben. Vorher galt es für die Ärzte und Statistiker zu beweisen, dass das Hungern gesundheitsfördernd sei. Erst als man glaubte, durch solche Verzweiflungsschreie gute Friedensbedingungen zu erhalten, wurde diese Fragestellung interessant. Eine genaue Todesursachenstatistik, die dieses Moment, das teils direkt, zum grössten Teil aber indirekt wirkt, mit berücksichtigt, ist zu fordern.

Das Ziel all dieser Untersuchungen wäre eine Sterblichkeitsstatistik des Proletariats, die in der Aufstellung eigener Sterbetafeln gipfeln müsste. Aus diesen könnte man dann das bevölkerungsstatistische Facit der Ausbeutung ziehen und schliessen, ein wie grosser Teil der Lebenserwartung durch die mit dem kapitalistischen System verknüpfte Ausbeutung der Arbeiterklasse weggenommen wird.

(Fortsetzung folgt).



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JORIS IVENS
‘DE BRUG’


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PALUCCA