Zum Thema Emigranten-Literatur
(Antwort an Andermann und Marcuse)

Den Artikel, den Erich Andermann im ‘N.T.B.’ vom 5. Januar meinem Aufsatz über die Emigrantenliteratur gewidmet hat, könnte man auf die Formel zurückführen: ‘Freuen wir uns, wo das Genie fehlt, dass wenigstens das Mitteimässige lebt. Denn bei möglichst zärtlicher Therapie wird aus dem Mittelmässigen vielleicht (vielleicht!) einmal doch das Geniale entstehen.’

Gesetzt, diese Formel wäre richtig, so hätte ich gegen das Andermann'sche Plädoyer für die Mittelmässigkeit nichts einzuwenden. Leider ist die Welt so beschaffen, dass Toleranz dem Mittelmässigen gegenüber nur noch Mittelmässigeres gebären kann, aber niemals Genie. Man soll sich also durch Sorgen um das künftige Geniale nicht davon abhalten lassen, die kritische Wahrhaftigkeit allen andren Erwägungen vorzuziehen. Ich anerkenne alle praktischen Schwierigkeiten der Emigrantenkritik und kann sehr gut verstehen, dass man nicht fortwährend ‘mit den Dreschflegeln der Unerbittlichkeit operiert’. Es gibt aber Taktik und Taktik, Unerbittlichkeit und Unerbittlichkeit. Man könnte zum Beispiel gute Unterhaltungsliteratur den Lesern ohne weiteres warm empfehlen, - aber eben als gute Unterhaltungsliteratur! Dass dagegen eine tolerante und überschwängliche Kritik nötig sei, damit einmal auch das wirklich Bedeutende zur Geltung gelangen könnte, scheint mir grundfalsch. Eine Kritik, die sich dieser Fiktion bedient (wenn auch mit den besten Absichten), fälscht die Werte, fälscht die Terminologie, fälscht das Urteil des ‘besseren’ Publikums. Und aus diesen diplomatisch gefälschten Werten würde das Geniale erblühen? Oder in dem Schatten dieser Werte würde das Geniale gedeihen? Das wird Erich Andermann wohl selbst nicht ganz glauben.

Es kommt noch etwas hinzu. Wenn die Emigrationskritiker sich auch in der Zukunft mit dem Kriterium des mittelmässigen Wertes (als einer Art machiavellistisch zu betrachtender Vorstufe zur Genialität) zufriedengeben, werden sie damit rechnen müssen, dass ihre Kollegen im Ausland aus diesem Verhalten Konsequenzen ziehen. Auch Erich Andermann wird verstenen, dass wir unseren nationalistischen Fachgenossen gegenüber die Emigration als eine europäische Idee und eine europäische Aufgabe auf die Dauer nur durch Berufung auf die Qualität verteidigen können. Eine Emigrationsliteratur, die sich darauf beschränken würde, nur eine ‘Fortsetzung des Betriebs’ zu sein, und die uns zwingen wollte, auch die Mittelmässigkeit in Kauf zu nehmen, würde uns diese Verteidigung fast unmöglich machen. An unzweideutigen Verhältnissen ist alles gelegen, gerade ‘abseits von der Reichskulturkammer’, Taktik dagegen verschleiert nur. Die Taktik, die Erich Andermann empfiehlt, wird vielleicht dem ‘grossen’ Publikum, das nur Worte liest und an Worte glaubt, nicht als Taktik erscheinen. Um so mehr aber wird sie in den Kreisen Misstrauen erregen, die sich der Relativität der Worte schon an und für sich bewusst sind und eben deshalb höchsten Wert legen auf eine Kritik, die sich nicht überdies noch durch Diplomatenmethoden von ihrer Aufgabe ablenken lässt.

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Als meine Antwort an Erich Andermann schon geschrieben war, las ich den Aufsatz von Ludwig Marcuse in der Nummer vom 12. Januar. Er formuliert den Andermann'schen Standpunkt noch schärfer. Nach diesen beiden parallel gerichteten Artikeln will es mir scheinen, dass meine Auffassung, die Emigration sei ein europäisches Geschehen, den ‘offiziellen’ Emigrationsautoren fremd und sogar zuwider ist. Habe ich mich also geirrt, als ich 1933, ohne Rücksicht auf literarische Qualitäten zu nehmen, mich sofort für die Idee der deutschen Emigration entschied? Die nach meiner Meinung vollkommen richtigen Bemerkungen von Hans Sahl in derselben Nummer des ‘N.T.B.’ haben mich wieder einigermassen getröstet. Denn sich ‘plus émigré que les émigrés’ fühlen zu müssen, wäre eine paradoxe, dabei aussichtslose Situation.

Auch Ludwig Marcuse stellt fest, dass eine ‘Emigrationsliteratur’ eigentlich nicht existiert. Aber er geht weiter als Erich Andermann: er will nicht einmal, dass sie existieren soll. Denn der Nationalsozialismus ist ihm ‘kein geistiges Ereignis, keine ebenbürtige Antithese’; Marcuse behauptet, er sei ‘im tiefsten unbewegt von dieser Bewegung’.

Dieser olympische Satz bestimmt das Verhältnis Marcuse-ter Braak, das man in dieser Lage (von Grössen-Unterschieden abgesehen) gewissermassen dem Verhältnis Goethe-Heine gleichsetzen könnte. Ich schliesse aus den Worten Marcuses, dass die Emigranten, sobald sie nach Deutschland zurückkehren werden, sich wie die Bourbons nach dem napoleonischen Zeitalter verhalten werden: sie werden nichts gelernt und nichts vergessen haben. Schade! Denn auch aus nicht geistigen Ereignissen und nicht ebenbürtigen Antithesen soll und kann man etwas lernen, und man könnte in der Emigration nicht nur die Zentren der vorhitler'schen ‘Ebenbürtigen’, - früher das ‘Romanische Café’, später das Eden-Hotel, - gründlich vergessen, sondern sich zum Beispiel auch bemühen, über das Problem des ‘Geistigen’ an sich nachzudenken. Der Nationalsozialismus ist eine Bewegung, die auch ihren Begriff vom ‘Geist’ hat (ich habe mich damit auseinandergesetzt in einem Aufsatz ‘Geist und Freiheit’ in der Holland-Nummer der ‘Sammlung’). Dieser Begriff von Geist, der typische Massenbegriff, der sich in der Kehlkopf-Philosophie Hitlers und dem ‘Babyface’ unseres Mussert verkörpert, enthält auch für uns allerlei Belehrendes, wenn wir uns nicht darauf beschränken, einfach olympisch die Nase zu rümpfen über den Goebbels'schen Kitsch. Denn was hat man von seinem geistigen Geist, wenn man damit schliesslich nur eine Kuriosität wird und sonst nichts? Die stolze Ueberlegenheit Marcuses, der nicht einmal dazu gelangt, eben seine Geistigkeit als Problem zu sehen, riecht schon nach Kuriosität, und es fragt sich wirklich, ob diese schriftstellerische ‘autarkeia’ im heutigen Augenblick für das Prestige der Emigration nicht weit gefährlicher zu werden droht als die Autarkie der bodenständigen Wirrköpfe. Glücklicher Marcuse! Seine Weltanschauung liegt fast ebenso fest vor Anker wie die nicht ebenbürtige Weltanschauung Rosenbergs! Muss man auch dem durchgeistigten Literaten Marcuse erst noch das zu wenig gelesene Buch Max Stirners, oder sogar ‘Die Rebellion der Massen’ von Ortega y Gasset, empfehlen?

Ueber die Kritiklosigkeit der Emigrationskritiker (die er mir zugibt) äussert Ludwig Marcuse sich nicht anders als Erich Andermann und ich darf darum auf meine Antwort an diesen verweisen. Ich will noch einmal betonen, dass ich volles Verständnis habe für die ökonomischen Schwierigkeiten, mit denen die Emigrationsliteratur zu kämpfen hat, und dass ich weder die ‘Dreschflegel’ von Erich Andermann noch das ‘Henkerbeil’ von Ludwig Marcuse unausgesetzt als kritische Waffen handhaben möchte. Man braucht darum aber noch nicht die kritische Terminologie unausgesetzt abzuschwächen Dass Ludwig Marcuse demgegenüber auf die Kameraderie in anderen europäischen Literaturen hinweist, ist an sich schon ein wenig zielbewusstes Argument (als ob Hitler sich für den 30. Juni durch Hinweis auf die augenblicklichen Ereignisse in Russland entschuldigen könnte!). Obendrein aber ist es auch falsch. Denn ich habe nichts gegen Kameraderie geschrieben; sie ist meiner Meinung nach eine unumgängliche Begleiterscheinung der Literatur überhaupt. Alles hängt davon ab, wie man ‘Kameraderie’ interpretiert: ob als Freundschaft oder als ‘Clique’. Freundschaft macht nicht unkritisch. Die Clique dagegen ist die Kritiklosigkeit zum System, zum ‘Betrieb’ konsolidiert. Hat Ludwig Marcuse die Absicht, diese zweite Art Kameraderie als Grundlage der Emigrantenliteratur zu schützen, zu fördern und zu kanonisieren? Dann hätte er tatsächlich nur erreicht, dass ich meine Auffassung von der Emigrantenliteratur als einer Literatur, die auch unsere, das heisst: eine europäische Sache ist, widerrufen müsste. Hoffentlich aber habe ich ihn in diesem Punkt nicht richtig verstanden.